Warum ist es wichtig, das Fach Pflegewissenschaft stärker in die universitätsmedizinische Forschung zu integrieren? (Martin Müller)
Pflegewissenschaft als Fach in Deutschland ist vergleichsweise jung und – im Gegensatz zu fast allen anderen westlichen Ländern – wenig entwickelt. Das wird deutlich, wenn man sieht, dass es aktuell 16 pflegewissenschaftliche Professuren in der Universitätsmedizin gibt, die Evidenz für klinische Entscheidungen für die weitaus größte Berufsgruppe bereitstellen soll. Pflegeforschung in Deutschland fand bislang hauptsächlich in der Langzeitpflege statt und hat dort wichtige Impulse gesetzt, z.B. beim Thema Vermeidung von freiheitsentziehenden Maßnahmen oder der Reduktion von Stürzen oder Gewalt. Aus verschiedenen Gründen (die wir hier näher beschreiben) gibt es bislang sehr wenig Pflegeforschung in der Akutversorgung. Das muss sich unbedingt ändern, und das Netzwerk Universitätsmedizin ist eine Initiative, die wir unbedingt nutzen müssen. Pflegeforschung muss stärker mitgedacht und integriert werden, weil es im NUM grundsätzlich die Infrastruktur gibt, die hochwertige und praxisrelevante Studien erlaubt. Damit sind sowohl große klinische Multicenterstudien gemeint als auch Studien mit bestehenden Datensätzen, um z.B. Versorgungsbedarfe zu verstehen oder Messinstrumente zu validieren.
Wo sehen Sie das größte ungenutzte Potenzial pflegewissenschaftlicher Forschung innerhalb des NUM? (Katrin Balzer)
Das ist eigentlich ganz einfach zu beantworten: Die allermeisten Versorgungspfade in der Universitätsmedizin sind interprofessionell und Pflegefachpersonen sind zentrale Gewährspersonen für das Gelingen der Behandlung und die Patientensicherheit, für Prävention und Förderung der Genesung. Im Zentrum steht die Fallverantwortung, die durch direkte Pflege, aber auch Anleitung und Beratung erreicht wird. Diese Perspektiven werden im Design von innovativen Versorgungsprogrammen und in klinischen Studien ebenso zu wenig genutzt wie die spezifische klinische Expertise, die Pflegefachpersonen haben.
Welche methodischen Zugänge der Pflegewissenschaft lassen sich besonders gut in die Forschung im NUM integrieren? (Gabriele Meyer)
Ein methodischer Zugang, der in der Forschung in Deutschland als neu und sehr innovativ erscheint, ist das Konzept der Komplexen Interventionen des UK Medical Research Council. Verkürzt gesagt, versucht das Konzept, Versorgungsprogramme (komplexe und weniger komplexe) so zu entwickeln und zu evaluieren, dass die Einführung in die Praxis von Anfang an mitgedacht ist. Man möchte sowohl verstehen, ob Interventionen im Hinblick auf patientenrelevante Ergebnisse wirksam, als auch verstehen, warum und unter welchen Bedingungen diese wirken. Deutsche Pflegewissenschaftler:innen beschäftigen sich seit über einem Jahrzehnt mit Komplexen Interventionen und sind zentral am internationalen Diskurs beteiligt. Dort ist es unumstritten, dass dieser Ansatz einen wirklichen Mehrwert für klinische Studien und damit Innovationen in der Gesundheitsversorgung bietet. Mit dieser Expertise bietet die Pflegewissenschaft einen relevanten Beitrag beim Design komplexer randomisierter kontrollierter Studien, der über das Standardrepertoire hinausgeht. Zudem gibt es große Expertise im Bereich der Evidenzsynthese, im Kontext partizipativer Forschung und public and patient involvement. Eine weitere sehr wichtige Dimension von Expertise ist qualitative Forschung, die in vielen Bereichen eingesetzt werden muss, um Bedarfe zu erkennen, Theorien zu entwickeln und Prozesse zu verstehen.
Wie lässt sich die Zusammenarbeit zwischen Pflegewissenschaft und anderen Disziplinen innerhalb des NUM stärken? (Christiane Kugler)
Vor der Frage der Zusammenarbeit muss ein wichtiger Aspekt klar werden: Was sind die spezifischen pflegerischen Forschungsfragen? Pflegepraxis und damit Pflegewissenschaft blickt nämlich nicht durch die Brille der medizinischen Fächer mit ihrem starken Organ- oder Funktionsbezug auf Patient:innen und deren Familien, sondern mit dem Fokus, wie Einzelne und Gruppen im Kontext von gesundheitlichen Herausforderungen in ihrer Alltagsfähigkeit gestärkt werden können. Wenn das deutlich ist, kann diskutiert werden, wie Pflegewissenschaft medizinische Forschung bereichern kann. In vielen Bereichen ist das längst klar, wie z. B. in der Intensivmedizin, in der Rehabilitation, der Geriatrie oder der Palliativmedizin. In anderen Fächern muss hier noch Aufklärungsarbeit geleistet werden – wozu die Kolleg:innen gerne bereit sind.
Wie kann das NUM dazu beitragen, pflegewissenschaftliche Themen auf die strategische Agenda der Universitätsmedizin zu bringen? (Martin Müller)
Aus unserer Sicht – ich spreche hier für die Kolleg:innen an den medizinischen Fakultäten – muss die Pflegewissenschaft in die Community Plattform des NUM integriert werden. Nur so können wir mitgestalten und Bedarfe äußern, z. B. zu einem pflegerischen Kerndatensatz, der in der Infrastruktur bereitgehalten werden muss. Oder unsere Bedarfe bei der Umsetzung von klinischen Studien, die dann in die NUM-Infrastruktur integriert werden können. Also: Es muss eine FOSA bzw. AG Pflegewissenschaft geben, die sich in NUM einbringt. Zum Schluss möchte ich betonen, dass es in der Realität bereits sehr gut klappt, sich mit den medizinischen Fächern auszutauschen und gemeinsame Studienideen zu entwickeln. In der Ausschreibung von NUM 3.0 haben wir erfolgreich „genetzwerkt“ und sind mit unserer Idee zu einem Studiennetzwerk zum Thema Frailty gemeinsam mit der Geriatrie und der Medizininformatik nur knapp am Quorum gescheitert. Jetzt müssen wir nur noch formal angedockt werden!
Unsere Interviewpartner:innen:
Prof. Dr. rer. cur. Katrin Balzer, Professur Evidenzbasierte Pflege, Leitung Sektion für Forschung und Lehre in der Pflege, Institut für Sozialmedizin, Universität zu Lübeck, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lübeck
Prof. Dr. rer. biol. hum. Christiane Kugler, Direktorin des Institut für Pflegewissenschaft, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Prof. Dr. phil. Gabriele Meyer, Direktorin des Instituts für Gesundheits-, Hebammen- und Pflegewissenschaft, Medizinische Fakultät, Universitätsmedizin Halle, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Co-Sprecherin der AG Pflegewissenschaft an den Medizinischen Fakultäten in der Deutschen Gesellschaft für Pflegewissenschaft
Prof. Dr. rer. medic. Martin Müller, MPH, Professor für Pflegewissenschaft und Interprofessionelle Versorgung, Abt. Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung, Medizinische Fakultät der Universität Heidelberg, Co-Sprecher der AG Pflegewissenschaft an den Medizinischen Fakultäten in der Deutschen Gesellschaft für Pflegewissenschaft